
Häufige Fragen zur Initative smarter medicine
Wozu dient "smarter medicine"?
Heute ist in der Medizin sehr Vieles möglich und oft herrscht die Meinung vor, dass a priori alles gemacht werden muss, was irgendwie möglich ist. Dabei wird verkannt, dass nicht alles, was möglich wäre, im konkreten Fall auch sinnvoll sein muss. Nach dem Motto „weniger ist mehr“ will der Verein smarter medicine auf das Thema der Fehl- und Überversorgung in der Medizin fokussieren. Um das Bewusstsein für gute Behandlungsqualität zu stärken, braucht es ein starkes Netzwerk von Ärzt/innen, weiteren Gesundheitsberufen, Patient/innen und Kund/innen und einen echten Dialog zwischen diesen unterschiedlichen Anspruchsgruppen. Dazu will der Verein smarter medicine – Choosing Wisely Switzerland beitragen.
Warum braucht es einen Trägerverein?
Ein Grundlagenpapier („Ein nachhaltiges Gesundheitssystem für die Schweiz“) der Schweizerischen Akademie für Medizinische Wissenschaften (SAMW) hat die ehemalige medizinische Fachgesellschaft SGIM 2014 dazu motiviert, eine Liste von fünf unnötigen Behandlungen im ambulanten Bereich zu erarbeiten und zu veröffentlichen. Die Initiative zu smarter medicine kam also aus der Ärzteschaft und basierte auf evidenzbasierten Erkenntnissen. 2016 wurde von der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM) eine weitere Liste im stationären Bereich veröffentlicht. Danach folgten weitere "Top-5-Listen", die durch die jeweiligen Fachgesellschaften ausgearbeitet wurden.
Diese Listen wurden zwar von Anfang an vom Dachverband Schweizerischer Patientenstellen unterstützt und in Fachkreisen rege diskutiert, trotzdem drang die Choosing Wisely-Kampagne in der Schweiz anders als in anderen Ländern nie richtig ins Bewusstsein der Öffentlichkeit.
Mit dem Trägerverein smarter medicine – Choosing Wisely Switzerland soll nun ein starkes Netzwerk von Ärzt/innen, weiteren Gesundheitsberufen, Patient/innen und Konsument/innen entstehen, welches das Thema der Fehl- und Überversorgung aus verschiedenen Perspektiven in den Fokus der Öffentlichkeit rückt. Mit der breiten Trägerschaft erhofft sich der Trägerverein, dass diese Fragen nun auch in der Schweiz breit diskutiert werden und Eingang in politische Diskussionen finden.
Vgl. auch Artikel von Jean-Michel Gaspoz in Sonderausgabe ‚Primary and Hospital Care‘
Welches sind die Ziele des Trägervereins?
Ziel des Trägervereins ist es einerseits, dass weitere medizinische Fachgesellschaften für ihren Bereich Top-Five-Listen mit unnötigen Behandlungen festlegen und veröffentlichen. Damit diese Listen glaubwürdig sind, müssen sie hohe Qualitätskriterien erfüllen. Es ist daher unabdingbar, dass solche Listen durch die fachlich zuständigen Ärztegesellschaften erarbeitet werden.
Andererseits will der Verein einen starken Fokus auf die Sensibilisierung der Patient/innen legen. Sie sollen letztlich und idealerweise dazu befähigt werden, zusammen mit der behandelnden Ärztin/dem behandelnden Arzt darüber entscheiden, welche Untersuchungen und Behandlungen in ihrem konkreten Fall auch wirklich angezeigt sind. Das bedingt grundsätzlich die Stärkung des Bewusstseins, dass nicht alles, was heute in der Medizin möglich ist, im konkreten Fall auch wirklich sinnvoll ist.
Vgl. auch Artikel von Bernadette Häfliger Berger in Sonderausgabe ‚Primary and Hospital Care‘
Wie soll diese Sensibilisierung der Patient/innen konkret aussehen?
Einerseits soll die Bevölkerung mit einer breiten Kampagne überhaupt auf das Thema der Fehl- und Überversorgung aufmerksam gemacht werden, andererseits sollen den Patient/innen konkrete Hilfsmittel zur Verfügung gestellt werden, damit sie nachfragen können. Hierbei denkt der Verein zum Beispiel an Informationsbroschüren und spezifische Checklisten für Patient/innen aber auch für Angehörige.
Andererseits braucht es ein Umdenken in der Ärzteschaft: weg von der Standardisierung hin zur patientenorientierten Medizin. Das ständig wachsende medizinische Wissen muss der konkreten Situation der einzelnen Patientin/des einzelnen Patienten gegenübergestellt werden. Gerade bei multimorbiden und chronisch Kranken ist dies für die Qualität der Behandlung entscheidend. Dazu muss ein bestimmter Prozess entwickelt werden, wonach das vorhandene Fachwissen über Krankheiten eingebracht, dann aber die Situation der Patient/innen systematisch ins Zentrum gerückt und die Patientin/den Patienten dort abgeholt werden, wo sie/er aktuell steht.
Worauf basieren die Empfehlungen der (Top-Five-) Listen?
Die Listen richten sich nach den Empfehlungen für eine nachhaltige, effiziente und evidenzbasierte Medizin und beruhen auf nationalen und internationalen Studien. Verschiedene Fachgruppen der SGAIM und der SGI haben sich intensiv mit der Erarbeitung der Listen beschäftigt. Bei der SGI fand vor dem Erlass der Liste eine Mitgliederbefragung statt. Die SFGG hat ein anderes – und für kleinere Fachgesellschaften probates – Vorgehen gewählt, indem sie die Liste von Choosing Wisely USA geprüft und übernommen hat. In den nächsten Monaten werden die Listen weiterer Fachgesellschaften veröffentlicht.
Vgl. auch Top-5-Listen
Wieso werden nur Empfehlungen formuliert und keine Richtlinien erlassen?
smarter medicine will und kann keine neuen Vorschriften erlassen, sondern eine Orientierungshilfe in medizinischen Grauzonen zur Verfügung stellen. Nur so ist es möglich, auf die individuelle Situation des/der einzelnen Patient/in einzugehen. Es ist nicht möglich, Patient/innen ausschliesslich nach Richtlinien zu behandeln, ohne dabei auf ihre individuellen Bedürfnisse einzugehen.
Vgl. auch Artikel von Regula Capaul in Sonderausgabe ‚Primary and Hospital Care‘
Erfahrungen aus der Kampagne NICE in Grossbritannien haben zudem gezeigt, dass restriktiver Druck zur Verweigerung führt. Es braucht vielmehr ein breites Netzwerk aller Akteur/innen, das die Kernbotschaft „weniger ist mehr“ glaubwürdig vermittelt. Die Patient/innen dürfen nie das Gefühl bekommen, es werde ihnen etwas vorbehalten; sie müssen immer davon überzeugt sein, dass ihnen jederzeit die bestmögliche Behandlung zukommt.
Werden diese Empfehlungen denn überhaupt umgesetzt?
Auswirkungen von medizinischen Empfehlungen sind naturgemäss schwer messbar, da es in der Schweiz keine Datenbanken gibt, welche Veränderungen in der Verschreibungspraxis messen. Eine vorläufige Studie aus dem Jahr 2016 der Policlinique Lausanne mit Unterstützung der SGAIM zeigt auf, dass fast 60% der befragten Ärzt/innen die smarter medicine-Kampagne kennen; in der Deutschschweiz liegt der Bekanntheitsgrad sogar bei 70%. Die Zustimmung zu den Empfehlungen der SGAIM-Listen lag bei 8.5 und 9 von 10 Punkten. Der Anteil der Ärzt/innen, welche nach Eigenangaben in der Praxis selten von den 4 Empfehlungen abweichen (Nichtverschreibung von Antibiotika gegen Infekte der oberen Luftwege, Verzicht auf systematische präoperatives Thoraxröntgen, Vermeidung einer bildgebenden Diagnostik der Lendenwirbelsäule bei Patient/innen mit akuten Lumbalgien ohne Alarmzeichen oder Verzicht auf die Messung des Prostata-spezifischen Antigens), lag zwischen 67 und 74%. Dagegen wird die Empfehlung zu den Protonen-Pumpenblockern (Langzeit-Pharmakotherapie bei gastrointestinalen Symptomen ohne Reduktion auf tiefste Dosis) lediglich von 33% der befragten Ärzt/innen eingehalten.
Ist bekannt, wieso Ärzt/innen die Empfehlungen nicht einhalten?
Wie aus der Befragung der Policlinique Lausanne hervorgeht, sind die Wünsche der Patient/innen und die Vermutung, andere Ärztekolleg/innen würden ihnen die selber gewünschte Therapie ohnehin verschreiben, ausschlaggebend. In den USA wird die Angst vor einer Klage wegen eines Kunstfehlers als zusätzlicher Grund aufgeführt.
Diese Erkenntnisse zeigen, wie wichtig die Sensibilisierung der Patient/innen und das Bewusstsein für das Problem der Fehl- und Überversorgung bei der Umsetzung der smarter medicine-Kampagne sind. Zudem scheint es unerlässlich, dass bei der Erarbeitung von weiteren Empfehlungen auch Hausärzt/innen mit ihrem Erfahrungshintergrund von Anfang an involviert werden. Es braucht weiter einen öffentlichen Diskurs über die Wertigkeit medizinischer Interventionen, damit die Empfehlungen besser umgesetzt werden.
Vgl. auch Artikel von Stefan Neuner-Jehle in Sonderausgabe ‚Primary and Hospital Care‘
Wieso machen auch die anderen Berufsorganisationen des Gesundheitswesens beim Trägerverein smarter medicine – Choosing Wisely Switzerland mit?
Dies geschieht aus der tiefen Überzeugung, dass nur mit einer guten interdisziplinären Zusammenarbeit den Patient/innen die optimale Behandlung geboten werden kann. Zudem betreffen gewisse Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften andere Gesundheitsberufe sehr direkt. Ein konkretes Beispiel: In einer SGAIM-Liste wird empfohlen, ältere Menschen bei einem Krankenhausaufenthalt nicht zu lange im Bett liegen zu lassen. Eine solche Empfehlung greift direkt in die Arbeit des Pflegefachpersonals und der Physiotherapeut/innen ein. Es muss also mit den beteiligten Berufsgruppen zusammen überlegt werden, wie entsprechende Empfehlungen konkret in die Praxis umgesetzt werden können. Hierzu braucht es eine frühzeitige Behandlungsplanung und das Einbetten aller Massnahmen in eine interprofessionelle Behandlungskette.
Vgl. auch Artikel von André Burki in Sonderausgabe ‚Primary and Hospital Care‘
Sollen mit smarter medicine in erster Linie die Gesundheitskosten gesenkt werden?
Die am Trägerverein smarter medicine – Choosing Wisely Switzerland beteiligten Organisationen stehen klar dafür ein, dass die Kampagne ausschliesslich dem Patientenwohl dient und nicht von der Gesundheitsökonomie vereinnahmt wird. Es geht in erster Linie darum, die beste Behandlung für den einzelnen Patienten/die einzelne Patientin zu finden nach dem Motto „die optimale nicht die maximale Medizin“. Die Ärzt/innen und Patient/innen sollen sich gemeinsam fragen, ob die Behandlung wirklich einen konkreten Nutzen bringt, Risiken birgt oder im schlimmsten Fall sogar schaden kann. Wenn mit diesem Vorgehen Kosten gesenkt werden können, ist dies umso besser. Wenn hingegen bei Inkontinenz beispielsweise kein Dauerkatheter mehr gelegt wird, spart das zwar auf der einen Seite Pflegematerial und damit Geld, auf der anderen Seite dürfte aber ein erhöhter Personalbedarf beim Pflegepersonal entstehen.
Besteht mit smarter medicine nicht die Gefahr, dass medizinische Leistungen rationiert werden?
Mit smarter medicine werden den Patient/innen keine sinnvollen Behandlungen vorenthalten, und es soll damit keinesfalls auf Kosten der Patient/innen gespart werden. Patient/innen können aber kein Interesse an Behandlungen haben, die ihnen nichts bringen bzw. ihnen sogar schaden. Die Wahlfreiheit der Patient/innen wird durch smarter medicine nicht eingeschränkt, sondern im Gegenteil erweitert. Die Patient/innen sollen ihre Entscheidungen im Dialog mit Ärzt/innen fällen, in dem die Frage nach der im konkreten Fall sinnvollen Behandlung im Zentrum steht. Wenn durch den Verzicht unnützer Abklärungen und Behandlungen, die den Patient/innen schaden können, Gesundheitskosten gespart werden können, kann dies ein probates Mittel gegen Rationierungen in anderen Bereichen sein. Bei smarter medicine geht es nicht um Rationierung, sondern um kluge Entscheidungen zum Wohl der Patient/innen und schliesslich zur Sicherstellung einer hochwertigen Medizin.