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Stationäre Allgemeine Innere Medizin

Die Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin gibt die folgenden Empfehlungen für den stationären Bereich ab:

1) Keine prophylaktische Antikoagulation bei Akutpatient:innen mit geringem Risiko venöser thromboembolischer Ereignisse.

 

Mittels prophylaktischer Antikoagulation lässt sich die Inzidenz venöser thromboembolischer Ereignisse bei Akutpatient:innen mit Risikofaktoren für venöse Thrombosen verringern. Diese prophylaktische Antikoagulation bringt ein erhöhtes Risiko hämorrhagischer Ereignisse mit sich. In der medizinischen Praxis im Spital wird bei der Verordnung prophylaktischer Antikoagulation nicht ausreichend auf eine Abwägung mit dem Risiko venöser Thrombosen geachtet. Die Hälfte bis drei Viertel aller Patient:innen erhält trotz geringem Risiko unnötigerweise prophylaktische Antikoagulation ohne festgestellten Nutzen. Unter den verschiedenen Scores zur Bewertung des Risikos venöser Thrombosen sind der Geneva-Score, der vereinfachte Geneva-Score, der Padua-Score und IMPROVE zu erwähnen, die trotz nicht perfekter Sensibilität von 70 bis 90% bei Patient:innen mit hohem Risiko für im Spital erworbene Venenthrombosen nach wie vor sinnvoll sind, um eine Patientengruppe mit geringem Risiko und geringer Inzidenz venöser thromboembolischer Ereignisse (beispielsweise < 1% nach 90 Tagen beim Geneva-Score) zu identifizieren. Die prophylaktische Antikoagulation bringt Unannehmlichkeiten für die Patient:innen sowie Kosten für das Pflegepersonal und die pharmazeutischen Produkte mit sich, die aufgrund des fehlenden Nutzens nicht gerechtfertigt sind.

 

Referenzen

  1. Choosing wisely Society of Hospital Medicine – Adult Hospital Medicine, May 2022. https://www.choosingwisely.org/clinician-lists/shmam11-do-not-routinely-prescribe-vte-prophylaxis-to-all-hospitalized-patients-use-an-evidence-based-risk-stratification-system-to-determine-whether-a-patient-needs-vte-prophylaxis-if-they-do-warra/
  2. Kahn SR, Lim W, Dunn AS, Cushman M, Dentali F, Akl EA, et al. Prevention of VTE in nonsurgical patients: Antithrombotic Therapy and Prevention of Thrombosis, 9th ed: American College of Chest Physicians Evidence-Based Clinical Practice Guidelines. Chest. 2012; 141(2 Suppl):e195S–e226S. Epub 2012/02/15. https://doi.org/10.1378/chest.11-2296 PMID: 22315261; PubMed Central PMCID: PMC3278052.
  3. Schunemann HJ, Cushman M, Burnett AE, Kahn SR, Beyer-Westendorf J, Spencer FA, et al. American Society of Hematology 2018 guidelines for management of venous thromboembolism: prophylaxis for hospitalized and nonhospitalized medical patients. Blood Adv. 2018; 2(22):3198–225. Epub 2018/11/ 30. https://doi.org/10.1182/bloodadvances.2018022954 PMID: 30482763; PubMed Central PMCID: PMC6258910.
  4. Chaudhary R, Damluji A, Batukbhai B, et al. Venous Thromboembolism Prophylaxis: Inadequate and Overprophylaxis When Comparing Perceived Versus Calculated Risk. Mayo Clin Proc Innov Qual Outcomes 2017;1:2
  5. https://www.hug.ch/sites/hde/files/a5_thromboprophylaxie_3.pdf
  6. Choffat D, Farhoumand PD, Jaccard E, et al. Risk stratification for hospital-acquired venous thromboembolism in medical patients (RISE): Protocol for a prospective cohort study. PLoS One 2022;17:e0268833.

2) Keine Antibiotikatherapie aufgrund erhöhter Entzündungswerte wie C-reaktives Protein (CRP) oder Procalcitonin (PCT) als alleinige Indikation.

 

Entzündungsparameter zeigen einen inflammatorischen Prozess im Körper an, der unterschiedlichste Ursachen haben kann. Sie sind keineswegs spezifisch für Infektionen oder gar für bakterielle Infektionen und müssen deshalb immer im klinischen Kontext interpretiert werden. Erhöhte Entzündungsparameter können Anlass sein, gezielt nach einer Infektion zu suchen. Ohne spezifische klinische Symptomatik für eine Infektion (z.B. Pneumonie, Harnwegsinfektion, Blutstrominfektion usw.) stellen sie keine Indikation für den Einsatz von Antibiotika dar.

 

Referenzen

  1. Deutsche Gesellschaft für Infektiologie https://www.dgi-net.de/
  2. Ten Over J et al. et al.: Utility of immune response-derived biomarkers in the differential diagnosis of inflammatory disorders. J Infect 2015; Sep 30. DOI: 10.1016/j.jinf.2015.09.007
  3. Gabay C, Kushner I: Acute-phase proteins and other systemic responses to inflammation. N Engl J Med 1999; 340: 448–54

 

3) Keine systematische medikamentöse Behandlung erhöhter Blutdruckwerte während eines akuten Spitalaufenthalts.

 

Erhöhte Blutdruckwerte sind häufig während eines akuten Spitalaufenthalts und führen oft zu einer Verstärkung (Intensivierung) der antihypertensiven Therapie oder zur Initiierung einer medikamentösen Therapie bei Personen ohne vorbekannte Hypertoniediagnose. Mehrere Faktoren können tatsächlich den Blutdruck während eines akuten Spitalaufenthalts erhöhen, zum Beispiel Schmerzen, Stress, Angst, Schlafmangel, unbehandelte Schlafapnoe, Entzug oder Fieber. Bei fehlenden Hinweisen für einen hypertensiven Notfall (« hypertensive emergency », das heisst mit Endorganschädigung) oder für eine hypertensive Gefahrensituation («hypertensive urgency », das heisst mit Risikofaktoren für Komplikationen) gibt es während eines akuten Spitalaufenthalts keine Indikation, eine antihypertensive Therapie zu starten oder zu intensivieren. Im Gegenteil kann der Beginn oder die Intensivierung einer solchen Therapie Komplikationen (z.B. Schwindel, Stürze) begünstigen, ohne die Einstellung des Blutdrucks langfristig zu verbessern. Während eines akuten Spitalaufenthalts muss man vorerst hypertensive Notfälle und hypertensive Krisen erkennen und in anderen Situationen auf eine medikamentöse Therapie verzichten. Parallel dazu müssen externe Faktoren, die zu einer Blutdruckerhöhung führen können, gesucht und behandelt werden.

 

Referenzen

  1. Savigny E, Gobin N, Amyai N. Hypertension artérielle à l’hôpital : faut-il la traiter ? Rev Med Suisse 2022 ;18 :229-34.
  2. Studer M, Heimer O, Kherad O. Modification du traitement antihyeprtenseur durant le séjour hospitalier. Rev Med Suisse 2021 ;17 :1735-7.
  3. Rastogi R, Sheehan MM, Shaker V, et al. Treatment and outcomes of inpatient hypertension among adults with noncardiac admissions. JAMA Intern Med. 2021;181(3):345-352.
  4. Anderson TS, Bocheng J, Auerbach A et al. Clinical outcomes after intensifying antihypertensive medication regimens among older adults at hospital discharge. JAMA Intern Med. 2019;179(11):1528-1536.

4) Bei Verlassen des Spitals keine Verschreibung von Neuroleptika, deren Verabreichung während der Hospitalisierung gegen Schlaflosigkeit oder Unruhe initiiert wurde; bei jeder Verschreibung Neubewertung der Indikation nach der akuten Phase vorsehen.

 

Swissmedic und die amerikanische Food and Drug Administration haben der Verabreichung von Neuroleptika (auch Antipsychotika genannt) der zweiten Generation (Quetiapin, Risperidon, Olanzapin usw.) zur Behandlung verschiedener neuropsychiatrischer Leiden zugestimmt. In den letzten Jahren waren vermehrt Off-Label-Verschreibungen dieser Medikamente aufgrund ihrer sedativen und hypnotischen Eigenschaften zu beobachten. Im Spitalumfeld haben atypische Neuroleptika umfangreiche Anwendung beim Management von Schlaflosigkeit, Unruhe sowie Verhaltensproblemen in Zusammenhang mit Demenz gefunden. Neuroleptika der zweiten Generation bringen ein erhöhtes Risiko metabolischer Komplikationen, von Sedierung und Schläfrigkeit, extrapyramidaler Symptome, kognitiver Beeinträchtigungen und traumatischer Stürze mit sich. Angesichts dieser unerwünschten Wirkungen sowie des Abhängigkeitspotenzials sollte von der Off-Label- und der langfristigen Verschreibung von Neuroleptika der zweiten Generation abgesehen werden. Die Risiken und der Nutzen müssen zum Zeitpunkt der Verschreibung systematisch aufs Sorgfältigste bewertet werden. Ausserdem dürfen diese Neuroleptika nicht an demenzbeeinträchtigte Patient:innen verabreicht werden, sofern keine schwerwiegenden und/oder erhebliches Leiden verursachenden Symptome vorliegen.

 

Referenzen

  1. Krutika Chokhawala, Lee Stevens. Antipsychotic Medications. In: Chokhawala K, Stevens L, eds. StatPearls [Internet]: StatPearls Publishing 2022.
  2. https://www.swissmedicinfo.ch/
  3. Gaertner J, Eychmueller S, Leyhe T, et al. Benzodiazepines and/or neuroleptics for the treatment of delirium in palliative care?-a critical appraisal of recent randomized controlled trials. Ann Palliat Med 2019;8(4):504–15.
  4. Højlund M, Andersen JH, Andersen K, et al. Use of antipsychotics in Denmark 1997-2018: a nation-wide drug utilisation study with focus on off-label use and associated diagnoses. Epidemiol Psychiatr Sci 2021;30:e28.
  5. Alexander GC, Gallagher SA, Mascola A, et al. Increasing off-label use of antipsychotic medications in the United States, 1995-2008. Pharmacoepidemiol Drug Saf 2011;20(2):177–84.
  6. Reus VI, Fochtmann LJ, Eyler AE, et al. The American Psychiatric Association Practice Guideline on the Use of Antipsychotics to Treat Agitation or Psychosis in Patients With Dementia. Am J Psychiatry 2016;173(5):543–46.
  7. Gareri P, Segura-García C, Manfredi VGL, et al. Use of atypical antipsychotics in the elderly: a clinical review. Clin Interv Aging 2014;9:1363–73.
  8. Stogios N, Smith E, Bowden S, et al. Metabolic adverse effects of off-label use of second-generation antipsychotics in the adult population: a systematic review and meta-analysis. Neuropsychopharmacol. 2022;47(3):664–72.
  9. Yunusa I, Alsumali A, Garba AE, et al. Assessment of Reported Comparative Effectiveness and Safety of Atypical Antipsychotics in the Treatment of Behavioral and Psychological Symptoms of Dementia: A Network Meta-analysis. JAMA Netw Open 2019;2(3):e190828.
  10. Jahnsen JA, Widnes SF, Schjøtt J. Quetiapine, Misuse and Dependency: A Case-Series of Questions to a Norwegian Network of Drug Information Centers. Drug Healthc Patient Saf 2021;13:151–57.
  11. Corbett A, Burns A, Ballard C. Don't use antipsychotics routinely to treat agitation and aggression in people with dementia. BMJ 2014;349:g6420.
  12. Yunusa I, Rashid N, Demos GN, et al. Comparative Outcomes of Commonly Used Off-Label Atypical Antipsychotics in the Treatment of Dementia-Related Psychosis: A Network Meta-analysis. Adv Ther 2022;39(5):1993–2008

5) Keine Verabreichung von Sauerstoff bei Akutpatient:innen, um eine kapillare Sauerstoffsättigung von 94% oder darüber zu behalten.

 

Wenn keine Ateminsuffizienz oder verminderte periphere kapillare Sauerstoffsättigung (SpO2) < 90% vorliegt, erhalten Akutpatient:innen oftmals ohne deutliche Evidenz eine Sauerstofftherapie (O2). Studien an hospitalisierten Akutpatient:innen haben ergeben, dass die freigiebige O2-Verabreichung im Vergleich zu einer konservativen Strategie mit geringeren SpO2-Zielwerten und somit eingeschränkter O2-Verabreichung mit einer Übersterblichkeit assoziiert ist. Ausserdem führt die O2-Verabreichung zum Austrocknen und zu Beschwerden auf Ebene der Nasenhöhlen und des Rachenraums. Eine Metaanalyse und eine Rapid Recommandation des «British Medical Journal» empfehlen in diesen Fällen dringend, eine SpO2 von 96% nicht zu überschreiten. Etliche Empfehlungen richten sich an diesem Grenzwert aus. Mit schwächerer Evidenz wird ein SpO2-Zielwert zwischen 90% und 94% oder 88% und 92% empfohlen, sofern das Risiko einer hyperkapnischen Dekompensation (z. B. COPD, neuromuskuläre Erkrankung des Atmungssystems, obstruktive Hypoventilation) besteht. Diese Empfehlung ist nicht auf CO-Vergiftung, Cluster-Kopfschmerzen, vasookklusive Krisen bei Sichelzellanämie oder Pneumothorax anzuwenden.

Die Einschränkung einer ohnehin nicht mit Nutzen verbundenen und risikobehafteten freigiebigen O2-Verabreichung begrenzt zudem den finanziellen Aufwand und die Umweltbeeinträchtigungen in Zusammenhang mit der Herstellung des Sauerstoffs und der für seine Verabreichung erforderlichen Hilfsmittel. Bei dunkelhäutigen Patient:innen kann die SpO2-Messung verfälscht und das Ausmass der Hypoxämie kann unterschätzt werden.

 

Referenzen

  1. Chu DK, Kim LH, Young PJ, et al. Mortality and morbidity in acutely ill adults treated with liberal versus conservative oxygen therapy (IOTA): a systematic review and meta-analysis. Lancet 2018;391:1693-705.
  2. Siemieniuk RAC, Chu DK, Kim LH, et al. Oxygen therapy for acutely ill medical patients: a clinical practice guideline. BMJ 2018;363:k4169.
  3. Society of Hospital Medicine – Adult Hospital Medicine. May 2022. https://www.choosingwisely.org/clinician-lists/shmam7-dont-maintain-a-peripheral-capillary-oxygen-saturation-spo2-of-higher-than-96-when-using-supplemental-oxygen-unless-for-carbon-monoxide-poisoning-cluster-headaches-sickle-cell-cri/
  4. Sjoding MW DR, Iwashyna TJ et al. Racial Bias in Pulse Oximetry Measurement. N Engl J Med. 2020;383(25):2477-2478

 

Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin

www.sgaim.ch

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